Annexion oder Autonomie?

Französische Einflussnahme an der Saar 1945-1955

Autor

Paul Niklas Langer ist Student der „Deutsch-Französischen Studien: Grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation“ an der Universität des Saarlandes und Interviewer beim Projekt "Zeitzeug:innen im Saarland|Erinnerung. Multimedial.".
Unterzeichnung der Saarkonventionen 1950
© Staatskanzlei des Saarlandes, Landesarchiv des Saarlandes

Die Geschichte des Saarlandes ist eine Geschichte der nationalen Zugehörigkeit und Identität. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war die Frage der Nationalität für die Menschen an der Saar ungeklärt. Der folgende Blogbeitrag beleuchtet die Einflussnahme Frankreichs im Hinblick auf die nationale Zugehörigkeit auf das Saarland von 1945 bis 1955 anhand von Zeitzeug:innen-Gesprächen.

Liebe Leserinnen und Leser,

können Sie mir in einem Satz erklären, wie sich die Geschichte der nationalen Zugehörigkeit des Saarlandes im 20. Jahrhundert entwickelte? Sofern Ihnen das möglich ist, wäre ich äußerst erstaunt. Ich bekäme das nicht auf die Reihe. Das Wechselspiel zwischen deutscher und französischer Zugehörigkeit, Autonomie und Teilautonomie ist einfach zu kompliziert. Zum Glück ist 2023 in absehbarer Zeit kein Wechsel der nationalen Zugehörigkeit des Saarlandes zu erkennen. Wir bleiben erst einmal deutsch. Aber kann man uns Saarländerinnen und Saarländer überhaupt mit deutschen Bürgerinnen und Bürgern aus Hessen, Baden-Württemberg oder Sachsen-Anhalt vergleichen? Ich denke nicht. Ein Blick auf die letzten 123 Jahre an der Saar beweist das. Allein die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist schon nicht einfach zu erklären. Das weiß ich von meinen Großeltern, nachdem ich in Vorbereitung auf ein Zeitzeugengespräch mit ihnen über ihre Kindheit im Saarland gesprochen habe. Eine Kindheit in der Nachkriegszeit, geprägt von Frankreich. Aber inwiefern wurden Kinder und Jugendliche im Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg durch Frankreich beeinflusst? Eine Frage, die ich in fast jedem Zeitzeugengespräch meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern stelle.

Im Sommersemester 2022 habe ich sie mir an der Universität des Saarlandes selbst gestellt. Ich wollte mich in meiner Hausarbeit für den Kurs Sprachen, Kulturen, (Grenz-)Raum, Mehrkulturelle Erinnerungs- und Begegnungsorte in der Großregion von Anna Mensch mit dem Projekt „Zeitzeug:innen im Saarland|Erinnerung. Multimedial“ befassen. Vergessen sie einfach kurz, dass ich, typisch Student, zu spät mit der Erstellung begonnen und deshalb den zweiten Abgabetermin benötigt habe. Egal. Nach unzähligen Stunden am Schreibtisch lautete mein finaler Titel Sprechereinstellungen saarländischer Zeitzeugen zur französischen Einflussnahme auf das Saarland in der Nachkriegszeit. Die Grundlage für meine Recherche waren die Interviews auf der Zeitzeugenplattform. Diese bisher veröffentlichten Erinnerungen saarländischer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen glich ich für meine Analyse mit Fachliteratur über den französischen Einfluss auf das Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Mein Kapitel über die historisch belegten Fakten zu dieser Einwirkung möchte in folgendem Blogbeitrag in einer leicht umgeschriebenen Form veröffentlichen. Das Kapitel über die Sprechereinstellungen bleibt vorerst unveröffentlicht. Ich möchte Ihnen ja nicht die Spannung auf die Zeitzeugengespräche nehmen. Aber keine Sorge, am Ende des Blogbeitrags finden Sie eine Übersicht über die Stellen in den Zeitzeugengesprächen, in welchen die französische Einflussnahme auf das Saarland in der Nachkriegszeit thematisiert wird.

Das Saarland war von Juli 1945 bis Januar 1946 Teil der französischen Besatzungszone. Nachdem es aus dieser ausgegliedert wurde, unterstand es zunächst einer französischen Militärregierung. Durch das Inkrafttreten der saarländischen Verfassung am 17. Dezember 1947 erhielt das Saarland eine Teilautonomie mit eigener Verfassung und Regierung in einer Währungs- und Finanzunion mit Frankreich und befindet sich zudem in einer außen- und verteidigungspolitischen Abhängigkeit von Frankreich. 1955 entschied sich die saarländische Bevölkerung durch die Ablehnung des Saarstatuts, welches eine Europäisierung des Saarlandes forcierte, für einen Wiederanschluss an die Bundesrepublik Deutschland. Dieser wurde 1957 politisch und 1959 wirtschaftlich vollzogen. In dem 14-jährigen Zeitraum der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit bestand dementsprechend ein starker französischer Einfluss im Saarland.

Saarhundert - 1955

Saarhundert - 1955

Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in beiden Weltkriegen gab es in Frankreich nach Ende des Zweiten Weltkrieges Forderungen einer mit einer Annexion einhergehenden Revanchepolitik im Saarland. Dennoch habe laut Militärgouverneur Gilbert Grandval der französische Staatspräsident „de Gaulle […] nie von Annexion gesprochen und sie daher zweifellos nicht angestrebt“ (Hudemann 2022: 47). Zudem gibt es „keine einwandfreien Beweise für eine Annexionspolitik“ Frankreichs im Saarland. Auch weil de Gaulle „in seiner wiederholten öffentlichen Ablehnung von Annexionen die amtliche Regierungspolitik wiedergab“ (ebd.: 55). Anstatt einer Annexion forcierte er eine enge Anbindung des Saarlandes an Frankreich durch eine wirtschaftliche Kontrolle, einer Zollgrenze zu Rheinland-Pfalz und der Einführung des Franc.

Die Politik Frankreichs im Saarland wurde ab August 1945 von Gilbert Grandval als Militärgouverneur der französischen Besatzungsmacht vertreten. Im teilautonomen Saarland ab Dezember 1947 wurde er Hochkommissar. Er betrachtete den Wiederaufbau des Saarlandes für sich „als eine Art Lebensaufgabe“ (Hudemann 2022: 56) und führte eine streng kontrollierte französische Politik an der Saar ein. Diese Politik der Militärregierung war ein Wechselspiel zwischen Kontrolle und Kooperation. Erst nach dem Inkrafttreten der Wirtschafts- und Finanzunion im Jahre 1948 hob sich der Gegensatz zwischen den im Krieg siegreichen Franzosen und den besiegten Deutschen im Saarland langsam auf, wodurch sich eine Partnerschaft zwischen Franzosen und Saarländer etablierte und die Entbehrungen der Nachkriegszeit nach und nach endeten. Wirtschaftlich setzte die französische Militärregierung direkt nach Kriegsende eine Zwangsverwaltung von saarländischen Unternehmen ein. Zudem wurde in allen öffentlichen Verwaltungen das Personal von den „betreffenden Abteilungen der Militärregierung in Saarbrücken kontrolliert“ (Möhler 2022: 239).

Im Bildungsbereich versuchte Frankreich ein umfassendes Unterrichtssystem im Saarland aufzubauen um „den Spracherwerb des Französischen zu fördern“ (Heinen 2022: 10). Diesen „kosmopolitischen Anspruch der Regierenden erlebten viele Saarländerinnen und Saarländer als Überforderung“ (Heinen 2022: 10). Deshalb hatte dieses Unterrichtssystem auch nur bis zur „Mitte der Regierungszeit Hoffmanns“ (Heinen 2022: 10) Bestand und wurde danach radikal abgebrochen. Zudem wurde in den ersten drei Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, die Saarländer sowohl kulturell als auch symbolisch an Frankreich anzugliedern. Dazu dienten Gedenktage und historischen Feiertage wie dem 14. Juli, um die historische Verbundenheit zwischen dem Saarland und Frankreich zu zeigen.

Der Zeitraum von 1948 bis 1955 wird im Saarland als Wirtschaftswunderzeit bezeichnet. In diesem Zeitraum wurde durch Frankreich ein Großteil der Lebensmittelversorgung sichergestellt, nachdem in den Jahren davor Hunger und Kälte die saarländische Bevölkerung plagten und es „um nichts anderes ging als ums nackte Überleben“ (Grandmontagne 2022: 407). Nach Kriegsende versuchte Frankreich das Image einer nach Rache sinnenden Besatzungsmacht loszuwerden, indem sie sich in saarländischen Zeitungen auf Fotografien und Zeichnungen als großzügig und gnädig bei der Verbesserung der schlechten Versorgungssituation im Saarland in den Nachkriegsjahren darstellen lies. Aufgrund der beschriebenen Zustände traf diese Kampagne auf ein skeptisches saarländisches Publikum.

Diese historischen Fakten konnten die Sprechereinstellungen der Zeitzeugen wissenschaftlich untermauern. Ich wünsche Ihnen eine interessante Zeit beim Anschauen der Zeitzeugenspräche! Es sind äußerst spannende und auch bewegende Erinnerungen dabei!

Herzliche Grüße und À bientôt!

 

Themengebiete:

Einflussnahme in der Schule: Walter Lorrang (Video 1, 08:00), Martin Peter Scherzinger (Video 2, 09:30), Marianne Aatz (Video 1, 15:00)

Hungerzeit: Walter Lorrang (Video 1, 08:00), Günther Bernading (Video 1, 02:53), Manfred Baumgärtner (Video 1, 0:50), Martin Peter Scherzinger (Video 2, 09:30)

Verhältnis Saarländer-Franzosen: Dolly Hüther (Video 1, 4:53), Günther Bernading (Video 1, 02:53), Edgar Burger (Video 1, 08:16), Fritz Ludwig (Video 3, 0:00), Werner Beaumont (Video 1, 06:30), Werner Weiter (Video 1, 02:30)

Quellen:

Grandmontagne, Heinz (2022): „Das Saarland als Modellfall für die deutsche Einheit und die europäische Integration“, in: Hudemann, Rainer /Poidevin, Raymond/Heinen, Armin Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, Berlin/Boston, De Gruyter Oldenbourg, 407-410.

Herrmann, Hans-Christian (2022): „Das „eigentliche Wunder an der Saar““, in: Hudemann, Rainer /Poidevin, Raymond/Heinen, Armin Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, Berlin/Boston, De Gruyter Oldenbourg, 651-682.

Hudemann, Rainer (2022): „Die Saar zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1947“ In Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, in: Rainer Hudemann, Raymond Poidevin und Armin Heinen, Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 35-60.

Marc Schneider, Dieter (1993): „Gilbert Grandval Frankreichs Prokonsul an der Saar 1945 – 1955“, in: Stefan Martens (ed.) Vom Erbfeind zum Erneuerer, Sigmaringen, Thorbecke, 201-243.

Möhler, Rainer (2022): „Entnazifizierung-Demokratisierung-„Entpreußung“, in: Hudemann, Rainer /Poidevin, Raymond/Heinen, Armin Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, Berlin/Boston, De Gruyter Oldenbourg, 235-264.

Presser, Karl: „L‘administration séquestre: Industrie unter Zwangsverwaltung“, in:  Saar-Nostalgie, unter:
https://www.saar-nostalgie.de/Kohle%20und%20Stahl.htm (07.12.2022)

Rainer Hudemann/Poidevin, Raymond/Heinen, Armin (2022): Armin Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, Berlin/Boston, De Gruyter Oldenbourg,

Schneider, Marie-Alexandra (2022) : „Le conflit sarrois à la lumière de l’histoire visuelle“, in Rainer Hudemann/Poidevin, Raymond/Heinen, Armin (eds.) Die Saar 1945–1955 / La Sarre 1945–1955, Berlin/Boston, De Gruyter Oldenbourg, 621-650. 

Staatskanzlei des Saarlandes (2022): „Die Geschichte des Saarlandes“, Saarbrücken, 23-27.

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