Zeitzeug:innen-Workshops an Schulen

Geschichten fürs Leben

Autor

Thomas Scherer ist Filmregisseur und -Autor mehrerer Projekte. Im Projekt "Zeitzeug:innen im Saarland|Erinnerung. Multimedial." hat er bereits als Kameramann und zuletzt als Workshop-Leiter mitgewirkt.
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Worshops mit Schülerinnen und Schülern sind etwas Besonderes und können unterscheidlicher Art sein. Immer jedoch ist es der Reiz jungen Menschen etwas auf ihren Lebensweg mitgeben zukönnen und sie für ein Thema zubegeistern.

Die Lautsprecher knistern. Eine klassische Melodie setzt ein, erinnernd an Mozarts kleine Nachtmusik. Ich verharre in meiner Bewegung, breche mitten im Satz ab und warte auf die nachfolgende Durchsage seitens der Schulleitung. Stille. Unerwartet meldet sich eine Schülerin zu Wort: „Herr Scherer, ist alles in Ordnung?“ „Ich warte auf die Durchsage.“ „Das war unsere Pausenklingel.“ ...

Schlagartig wird mir bewusst, dass der klassische Gong, jener dumpfe, monotone altbekannte Ton, längst ausgedient hat. An seine Stelle sind schwungvolle Melodien getreten, stimmungsvolle Rhythmen, die eine hoffentlich ebenso spannende Schulstunde einläuten. Mit Mozart in bester Laune zu den Dreisätzen.

Und dieses Mal wird es tatsächlich spannend. Die nahende Stunde verspricht etwas anderes, fernab des gängigen Lehrplans. Ein Workshop, der sich offen mit einer Thematik auseinandersetzt, die alle Generationen zu begeistern weiß und besonders wichtig ist: Das intensive Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen suchen und führen, um einen persönlichen Einblick hinter die Kulissen der saarländischen Geschichte zu erhaschen. Zusätzlich soll das Ganze für nachfolgende Zuschauer:innen festgehalten und dauerhaft verfügbar gemacht werden.

Eine intensive, unterhaltsame und informative Reise steht den rund zwölf Schüler:innen bevor, die, zumindest lassen ihre Mimik darauf schließen, noch nicht so richtig wissen, was passieren wird.

Doch schnell wird ihnen klar, wie wichtig der heutige Tag ist – und wie einmalig. Jener Workshop, jene Grundidee, ist daher so bedeutend, da genannte Gesprächspartner:innen nicht mehr ewig bei uns sein werden, um ihre Geschichten der Nachwelt mitzuteilen. Gerade für die Schülerinnen und Schüler ergibt sich aus dieser Grundprämisse noch weitaus mehr. Sie lernen nicht nur eine interessante Persönlichkeit kennen und erlernen die zielgerichtete und dennoch vertraute Gesprächsführung mit jener Person, sondern sammeln auch in praktischer Weise Erfahrungen im Recherchieren, Fokussieren und Filtern gefundener Informationen. Ihre Medienkompetenz wird nachhaltig geschult. Obendrein wird der Umgang mit der Technik erlernt, die bei dem Interview zum Tragen kommt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten mit einer Filmkamera, lernen die Tücken der Tonaufnahme kennen, die gerade bei Interviews besonders deutlich hervortreten, und arbeiten mit professionellen Beleuchtungsmethoden, um ihre Gesprächspartner:innen im besten Licht erscheinen zu lassen.

Schlussendlich bietet der Workshop, der auf der simplen Grundlage „Wir plaudern mit einem Zeitzeugen“ basiert, ein erhebliches Lernpotenzial. Und dieses wird von den Schülerinnen und Schülern dankend und engagiert angenommen und voll ausgeschöpft. Außerdem lernen wir Begebenheiten über das Saarland, unsere Heimat, kennen, die uns vorher unbekannt gewesen waren. Ein wunderbarer Nebeneffekt. Wir hören Anekdoten, die ohne das aufgenommene Gespräch nie erwähnt oder gar in Vergessenheit geraten wären. Nach Mozarts Einführung starten wir mit der klassischen Recherche über die Person, mit der das nahende Gespräch stattfinden wird.

Auf die (hoffentlich) rhetorische Frage, ob TikTok als Quelle zugelassen ist, werden die Schultablets verteilt und die eigenen Smartphones ausgepackt. Während man früher dicke Brockhausbände durch wälzen musste, hat inzwischen jeder seine Lexika in der Hosentasche. Ein Vorteil, aber ein tückenreicher.

Was zunächst verständlich klingt („den Namen bei Google eingeben“), gestaltet sich plötzlich komplexer und birgt mehrere Fallen. Bereits hier müssen die einzelnen Quellen abgewogen und analysiert werden – getreu dem Motto: Nicht alles, was im Internet steht, ist automatisch richtig (Und bei TikTok schon mal gar nicht).

Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in Teams und lernen die einzelnen Webseiten kritisch zu betrachten und, vor allem, zu hinterfragen. Bei dem zu Beginn erwähnten Workshop gab es hierbei einen Nachteil, aus dem jedoch ein Vorteil entstand. Leider war über den Zeitzeugen nur wenig Material im Internet zu finden. Da der Gesprächspartner jedoch ein ehemaliger Direktor jener Schule gewesen war, blieb das Internet nicht die einzige Bibliothek. Aus den Untiefen der Gewölbekeller der Schule wurden alte Abizeitschriften, startend in den 90er Jahren, hervorgeholt, die Staubschicht entfernt und als wertvolle Quelle hinzugezogen.

Neben wirklich interessanten Informationen, humorvollen Erzählungen und Hintergrundgeschichten über den Direktor (unter anderem seine Unterhosenmarke...), waren gerade diese Zeitschriften für die Schülerinnen und Schüler ein besonderes Erlebnis. Eine unerwartete Zeitreise in die Vergangenheit der eigenen Schule, die in dieser Form nur hier stattfinden konnte. Obwohl es schwer war, die Schülerinnen und Schüler wieder zurück in die Gegenwart zu ziehen, musste der Workshop irgendwann weitergehen.

Nicht bloß die gefundenen Infos wurden kritisch beäugt, auch die Zeitzeug:innen selbst. So wurde aufgezeigt, dass die Personen, mit denen man spricht und die ihre persönliche Geschichte erzählen, stets die Historie aus ihrer Perspektive beleuchten. Ein Thema kann von Person A wohlwollend, aber von Person B niederschmetternd wahrgenommen werden. Um diesen Umstand zu verdeutlichen, machten wir eine Übung, die besonderen Zuspruch fand. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich, aufgeteilt in verschiedene Rollen, durch das Gebäude bewegen und danach von ihren Erlebnissen aus ihrer Sicht berichten. Und so streiften für fünfzehn Minuten ein Gutachter, eine Architektin, ein Blinder samt helfender Hand, zwei Reinigungskräfte und ein Austauschschüler durch das Gebäude. Und, wie zu erwarten war, jene fünfzehn Minuten wurden von jedem Einzelnen vollkommen anders beschrieben.

Natürlich sorgte das Ganze für eine Menge Spaß, machte aber auch klar, dass wir unser anstehendes Gespräch nicht mit einem sachlichen Historiker führen, sondern mit einem Menschen, der seine eigene Sicht auf die Dinge hat. Grundlegend war diese Übung wichtig für das Verständnis im Zeitzeugengespräch, aber auch für die eigene Perspektive. Manchmal tut es einfach gut, in andere Rollen zu schlüpfen. Verständlicherweise kamen auch die Themen Persönlichkeitsrecht und Urheberrecht nicht zu kurz.

Doch sobald wir auch darüber ausführlich gesprochen und uns über die absurde Neuverfilmung von Winnie Puuh im Horrorgenre gewundert haben, ging es in die gezielte Vorbereitung zum Kern des Ganzen: Das Gespräch. Die Schülerinnen und Schüler stellten die Fragen auf Grundlage ihrer intensiven Recherche zusammen und bestimmten zwei Gesprächsführer:innen. Hier bin ich jedes Mal begeistert, wenn sich, gerade bei der Besetzung genannter Position, Schülerinnen und Schüler erst zieren, sich dann aber einen Ruck geben und plötzlich in ihren Rollen aufblühen.

Es freut mich jedes Mal, zu erkennen, wie ihr Selbstbewusstsein gerade dadurch gestärkt wird. Allein dafür lohnt es sich bereits, solche Workshops zu leiten. Auch wenn man nur wenige Stunde, flüchtige Tage, mit den Schülerinnen und Schülern zusammen ist, hat man dennoch das Gefühl, dass man ihnen etwas für ihren späteren Lebensweg mitgibt. Die Schülerinnen und Schüler lernen etwas über die Geschichte des Saarlandes, über das zielgerichtete Führen von Interviews, über Kameratechnik, über Medienkompetenz, über die Bedeutung der Zeitzeug:innen für unsere Gesellschaft und, vor allem, über sich selbst.

Und eines Tages sind wir die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen...
Also legt euch schonmal eine gute Geschichte parat!

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